Freiheit und Gebundenheit
Wunsch nach Freiheit – dies ist wahrscheinlich der größte Antriebsmotor für alle Revolutionen auf dieser Welt.
Herrschaftsverhältnisse, welche individuelle Freiheit einschränken, rufen Widerstände hervor. Auch wenn sie nicht immer gleich zu Tage treten, sie sind da, und manchmal braucht es nur ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, um eine Rebellion auszulösen. So war es in den USA, als die Bewohner der Kolonie es nicht länger hinnehmen wollten, vom Mutterland sämtliche Steuern auf ihre Produkte auferlegt zu bekommen. So war es in Frankreich, als die Brotpreise immer weiter stiegen und die eigene Königin, anstatt zu helfen, dem Volk den sinnvollen Rat gab, es könne doch Kuchen essen, wenn es an Brot mangele. Und so war es auch auch diesen Frühling, als die Herrscher von Ägypten, Lybien und Tunesien versuchten, Demonstrationen mit Gewalt zu beenden. Die Frage ist nun, was kommt danach? Parlamentswahlen sind geplant, aber wird eine neue Regierung die Wünsche der Bevölkerung nach Freiheit umsetzen oder eine weitere Diktatur errichten? Oder wird die Errichtung einer neuen Regierung sogar scheitern und Anarchie ausbrechen? Wird das Verlangen nach Freiheit in der Bevölkerung letztendlich von Personen missbraucht, damit sie selbst Macht erlangen können? Freiheit ist ein gutes Schlagwort, um eine Revolution auszulösen, aber hilft sie auch dabei einen Staat aufzubauen oder muss das Volk doch durch Gesetze kontrolliert werden? Zu diesem Thema hat sich Gottwalt Christian Hirsch einige Gedanken gemacht:
„Kein Losungswort ist seit dem Jahre 1500 so viel mißbraucht worden wie das Wort „Freiheit“: in der Zeit der Reformation, der Französischen Revolution, des Liberalismus Europas und Amerikas, in den Schlagzeilen der Sowjetzone. Es gab dem natürlichen Bedürfnis des Menschen Ausdruck, in seiner Existenz als Individuum zu tun, was ihm gefällt. Es war das Schlagwort des Kampfes von Individuen gegen eine bindende, einengende Gruppe, gegen eine Familie, einen Stand oder im Kampf einer sozialen Schicht gegen eine zwingende höhere Gemeinschaft. Aber es wurde seltener deutlich – wohl allerdings bei Kant, Fichte, Chamberlain, Jaspers -, daß es keine absolute Freiheit gibt, sondern nur ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Bindung. Für das Leben eines Individuums ist die Freiheit der Bewegung ebenso notwendig wie die Bindung an ein Elternhaus. Die Freiheit der persönlichen Schöpfung im Denken, Fühlen und Gestalten ist ebenso wichtig wie die Bindung dieser Vorgänge an eine Gemeinschaft, die mitwirkt und durch ihren Widerhall mitgestaltet. Von diesem Gleichgewicht, von dieser lebensnotwendigen Polarität müssen wir ausgehen, der Polarität zwischen Bewegungsfreiheit und Ortsgebundenheit, Denkfreiheit und Denkausrichtung durch die Gemeinschaft, zwischen Individuum und Genossenschaft, zwischen schöpferischer Freiheit des Gestaltens und den Formen der Tradition, zwischen der Willkür des Handelns der Individuen oder der Gruppen und dem Widerhall, dem Miterleben durch die höhere Gemeinschaft. Die Existenz des Menschen umfaßt beide Pole; sein Leben entzündet sich durch die Energien, die von dem einen Pol zum anderen strömen: Freiheit und Gebundenheit.“
– Gottwalt Christian Hirsch, 1965 (zitiert in: Wikipedia)
Es ist kein Leichtes, diese Balance zwischen Freiheit und Gebundenheit zu schaffen. In Tunesien müssen sich die Menschen zum Beispiel zum ersten Mal damit auseinandersetzen, wie eine Verfassung aussehen soll und welche Freiheiten der Bevölkerung eingeräumt werden und an welche Gesetze sie sich zu halten haben, damit der Staat funktioniert. Gleichzeitig müssen sie auch verhindern, dass die gerade neue gewonnene Freiheit von Einzelnen wieder zunichte gemacht wird und die Macht an sich reißen. Wir beobachten gespannt, wie die Resultate der Freiheitsbewegung in den arabischen Ländern in der nächsten Zeit aussehen werden.